Wenn man später auf das 20. und 21. Jahrhundert zurückblickt, werden unsere Ruinen aus Beton, Asphalt und Plastik sein: verwitterte Versiegelungen und Berge aus Tüten. Ein Sinnbild des Lebens auf Grundlage petrochemischer Wirtschaftskreisläufe ist die Kunststoffkiste, der standardisierte Kleinladungsträger. Mit ihr arbeitet Romain Löser. Er erschafft scheinbar abstrakte Gemälde, die ihre Formen und Farben den konkreten Materialwelten der modernen Transport- und Lagerhaltung entnehmen. Im Fremdenhaus, dem ehemaligen Gästehaus der Herrscher von Anhalt-Dessau, inszeniert Löser die Fremdheit gegenwärtiger logistischer Wirklichkeiten, Malerei für das Anthropozän. Waren es im 18. Jahrhundert die Stile vergangener Epochen, aus welchen sich Modelle idealisierter Vergangenheiten konstruierten ließen, so sind es heute Plastikkisten, aus denen unsere Zukunft gewesen sein wird.
don't look back until you cry
- Romain Löser, don‘t look back until you cry, Installationsansicht Werkleitz Festival 2019 Modell und Ruine, 2019© Charlotte Bonjour und Romain Löser
- Romain Löser, don‘t look back until you cry, Installationsansicht Werkleitz Festival 2019 Modell und Ruine, 2019© Charlotte Bonjour und Romain Löser
- Romain Löser, don‘t look back until you cry, Installationsansicht Werkleitz Festival 2019 Modell und Ruine, 2019© Charlotte Bonjour und Romain Löser
- Romain Löser, don‘t look back until you cry, Installationsansicht Werkleitz Festival 2019 Modell und Ruine, 2019© Charlotte Bonjour und Romain Löser
- Romain Löser, don‘t look back until you cry, Installationsansicht Werkleitz Festival 2019 Modell und Ruine, 2019© Charlotte Bonjour und Romain Löser
Interview Romain Löser mit Alexander Klose
AK: Deine malerische und im weiteren Sinne bildnerische Arbeit wirkt auf den ersten Blick abstrakt und formal. Doch sie nimmt sehr konkret Bezug auf die Welt der Lager und des Transports und deren standardisierte Kisten. Maler interessieren sich klassischerweise für Landschaften oder Körper, für Stimmungen des Himmels oderautopoietische Oberflächenstrukturen. Du betrachtest Plastikkisten. Was fasziniert dich daran?
RL: In einem seiner Filme verreist Charlie Chaplin. Als sein Koffer gepackt und zugeklappt ist, stellt er fest, dass überall Hosenbeine, Ärmel und Socken heraushängen; er greift also zur Schere und schneidet alles ab, was übersteht. Ich finde, von standardisierten Behältern geht eine ganz ähnliche Gewalt aus.
AK: In unserem klassizistischen Park und Ausstellungsparcours bespielst du das ehemalige Gästehaus, das Fremdenhaus. Von außen verriegelst und versperrst du Fenster und Türen. Im Inneren stellst du Paletten voller hermetisch gefalteter Plastikkisten und Malereien aus. Ist Ausgrenzung für dich eine moderne Ruine?
RL: Aus kapitalistischer Sicht ist Ausgrenzung etwas Positives. Mir fällt gerade ein, dass meine erste Platte der Neubauten ein Cover-Kauf war, weil ich den Schriftzug „Einstürzende Neubauten“ so geil fand. Gestapelte standardisierte Kunststoffkisten sind auf jedenFall ein Zeichen für versiegelte, geschlossene und umweltbelastende Systeme. Sie sollen auch heilbringende Einheiten sein – aber die Hegemonie derkapitalistischenWeltordnung verliert an Glaubwürdigkeit.
AK: Vom Leitungsteam der documenta 12, 2007, stammt die Frage: „Ist die Moderne unsere Antike?“ Würdest du sagen, dass du die Logistik, die ja etwas eminent Modernes ist, in vergleichbarer Form als einen Reliktzusammenhang betrachtest, auf den du dich in einer quasi archäologischen Tätigkeit beziehst?
RL: Diese standardisierte Plastikkiste, von der du sprichst, – der Kleinladungsträger – wurde vom Verband der Automobilindustrie zur Optimierung der Logistikketten entwickelt. Aber es ist ihm egal, ob er Teile für einen Verbrennungsmotor oder einen E-Antrieb transportiert. Sein Versprechen ist wichtig: Ein reibungsfreier Ablauf generiert mehr zufriedene Kunden und mehr Gewinn. Die Frage ist nur, wie viele zufriedene Kunden kann es weltweit geben? Hier beginnt der Wettlauf um Rohstoffe, in dem wir uns befinden. Die Kiste kann nur ein Behälter für Inhalte sein. Das eigentliche Relikt scheint mir viel mehr der Glaube an den geordneten Gang der Dinge zu sein, der angeblich mit klaren Formen und Regeln einhergeht.
AK: Rosalind Krauss hat in einem bekannten Aufsatz über das Raster auf die religiösen bzw. spirituellen Gehalte der klassischen Abstraktion und Farbfeldmalerei hingewiesen. Wörtlich schreibt sie von einer „mythischen Kraft“ der geometrischen Abstraktion, die es den Künstlern der westlichen Zwischen- und Nachkriegsmoderne zu erlauben schien, die überall um sie herum vor sich gehenden Rationalisierungsprozesse mit einer ganzheitlichen, spirituellen Sicht auf die Welt im Sinne eines höheren Universalismus zu versöhnen. In deinen Arbeiten leiten sich die Maße, Formen, Proportionen und Farben von der Logistik als transzendentaler und zugleich ganz konkret Formen und Farben gebender Instanz ab. Sie also bilden diesen modernen „Goldgrund“ oder „Ideenhimmel“ des Rasters.
In welcher Beziehung siehst du dich zu der klassischen Avantgarde? Welche Bedeutung haben die Farbfelder für dich?
RL: Transzendenz hört sich an wie stillgelegt, aber Empathie ist mir wichtig. Eine Ironie der Geschichte liegt in der massiven Propagierung des Abstract Expressionism als rein amerikanischer Kunstrichtung, obwohl die meisten dieser Künstler Bezug auf die russische Avantgarde nahmen. Vielleicht legitimiert Rosalind Krauss auch nur ein amerikanisches Erbe? Die Planung von Manhattan als Raster stammt aus einer Zeit, in der die Eltern von Malevi
sich noch nicht einmal kannten. Mag sein, dass versucht wurde, dem Grid zu entkommen, indem man es transzendierte, verschwunden ist es nie.
Seit den 1970er Jahren gibt es GPS. Wir sind mehr oder weniger mobile Punkte auf einem Raster, je nachdem, welchen Pass man hat und wie flüssig man ist. Digitalisierung macht die Maschen noch enger.
Ich würde lieber das Lied von der Banalität des Rasters anstimmen: Es ist nicht radikal, sondern einfach nur pragmatisch und omnipräsent. Es steht für Kontrolle, systemische Gewalt, Ausbeutung und Expansion. Die Linien auf meinen Bildern entstehen durch angrenzende Flächen, und so sauber ich auch arbeiten mag, irgendwo hat jede Fläche ein Leck – Kontrolle ist ein Phantasma.
Achille Mbembe spricht von einer Genealogie der Trennung und der Teilung, die Frantz Fanon schon beschreibt und (mindestens) das 19. und 20. Jahrhundert durchzieht. Grenzen können Orte der Begegnung und der Neugierde sein – wir können uns aber auch nur mit Gleichgesinnten auf die Schultern klopfen.
AK: Wenn sich nach unserer Interpretation die historischen modernen Bewegungen durch ihre je eigen und programmatisch gefasste Verklammerung von Vergangenheiten und Gegenwart bzw. Zukünften auszeichneten, wie würdest du dein eigenes Verhältnis zu diesen nicht mehr und noch nicht gegenwärtigen Zeiten bestimmen?
Wie weit streckst du dich in die Zukunft, wie weit lehnst du dich in die Vergangenheit?
RL: Mit ausgestreckten Armen bin ich etwa 2,40 m lang. Und mit Michael Jacksons anti-gravity shoe kann ich mich etwa 45° in die Vergangenheit lehnen.